Entering Free Derry – Eine Nacht in der Bogside

„Betest Du?“ Es ist zwei Uhr morgens. Mit meiner Pub-Bekanntschaft Moiree sitze ich auf einer Bank vor der „Castle Bar“ in Derry, bis vor kurzem noch London-Derry. Ich bin mir nach gut fünf Pints hier in der “Bogside” allerdings verdammt sicher, dass auf dieser Seite des River Foyle wohl niemals jemand das Wort „London“ in diesem Zusammenhang in den Mund genommen hat. Hier sind alle „Nationalists“, alle Katholiken. Und auf dem Tresen steht eine Sammelbüchse – für die IRA.

Free Derry

“Das hatte er verdient, der ‘Black Bastard’ “

CIMG4903Gut fünf Stunden zuvor hatte ich mit Moiree Schwesternschaft getrunken, sie mit Heinecken, ich mit Guinness. Dann hatte sie sich verschwörerisch zu mir ‘rüber gebeugt: „Letzte Woche hatten wir sogar einen Protestanten in der Bar. Mit dem haben wir zusammen gefeiert, einfach so! Wir sind hier echt total tolerant!“ Moiree ist wohl Mitte vierzig, hat aber für mindestens sechzig Jahre Pub-Erfahrung hinter sich. Seit über 14 Jahren hat sie keine feste Arbeit, hilft aber hier, in ihrem zweiten zu Hause, einige Abende die Woche aus. In der „Castle Bar“ ist sie Mädchen für alles und kann gut mit den kahlrasierten Jungs die hier am Tresen kommen und gehen. „With kids, ya kno, it’s always hard. It’s a test tha the Lord has in store fo ya.“ Mit Kindern prüft Dich der Herr, verrät sie mir. Die „Blacks“ hätten ihn geholt, ihren Ältesten. Jetzt sitzt er im Knast. Schuld trifft ihn keine, sagt sie. Der hatte es wirklich verdient, der „black bastard.“ Mit „Blacks“ meint Moiree die Polizei der Briten und “Unionists” – ein Ausdruck der eigentlich der Vergangenheit angehört.

Als wäre es gestern gewesen: Derrys “Bloody Sunday”

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Schauplatz des “Bloody Sunday”

Die „Blacks“ waren ursprünglich Constables der britischen Krone, oft Ex-Soldaten und entsandt, um die irische Polizei hier auf den Straßen Derrys und Belfasts zu unterstützen. Im irischen Unabhängigkeitskrieg vor inzwischen fast 100 Jahren waren sie vor allem gegen die Kämpfer der Irish Republican Army im Einsatz, die nationalistische Untergrundarmee. Ihnen und den Soldaten der British Army wird auch das Massaker des „Bloody Sunday“, des Blutsonntags 1972, zugeschrieben. Über zwei Jahre dauerten die „Troubles“, Straßenkämpfe und terroristische Aktionen in Nordirland unter Führung der IRA, zu diesem Zeitpunkt bereits an. An diesem 30. Januar werden während eines Demonstrationszuges 13 Zivilisten von britischen Soldaten erschossen, die meisten auf der Flucht. Ein weiterer Demonstrant erliegt einen Tag später seinen Verletzungen. Bis heute sind die Umstände dieses Einsatzes der British Army umstritten.

„My heart besieged by anger, my mind a gap of danger. I walked among their old
haunts, the home ground where they bled. And in the dirty lay an acorn in the winter.
Till its oak would sprout in Derry where thirteen men lay dead.“

Aus der Ballade “The Road to Derry“ zum Bloody Sunday 1972
von Seamus Heaney, irischer Dichter, Literatur-Nobelpreisträger 1995

Hier in der “Bogside” leben die “Troubles” weiter

Offiziell hat die IRA vor gut 10 Jahren ihre Waffen niedergelegt. Das Good-Friday-Agreement, das Karfreitags-Abkommen von 1998 ist bis heute rechtliche Grundlage für die Verständigung zwischen der britischen Krone, ihren nordirischen Unterstützern und den „Nationalists“ über das “principle of consent“: An der Zugehörigkeit Nordirlands zu Großbritannien würde sich ohne Zustimmung der nordirischen Mehrheit nichts ändern. 2011 wird mit EU-Mitteln die “Peace-Bridge”, die Friedensbrücke, eröffnet. Die soll die “Unionists” auf der “Waterside” die “Nationalist” auf der “Cityside” einander näher bringen. Die hoffen allerdings bis heute auf ein vereintes Irland, ganz ohne „Union Jack“. Der Distrikt um die “Bogside” ist bis heute ihre Hochburg in Derry. Mit der höchsten Arbeitslosenquote und Kriminalitätsrate Nordirlands werden hier auch die niedrigsten Löhne gezahlt. Im einstigen “Kessel der Rebellion” merke ich von Friedens-Abkommen und -Brücke reichlich wenig.

Die “Castle Bar” – Geschlossener Wirtschaftskreislauf

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Die “Waterside”, fest in der Hand der “Unionists”

Während die andere Hälfte der Stadt ihre Gehsteige in den Farben des Union-Jack bemalt, singt die „Castle Bar“ jenseits der in den Kneipen der „Bogside“ noch vor Mitternacht für den Kampf gegen die britischen Besatzer: „Go on home British soldiers, go on home!” Als wir dann selbst die Gitarre in die Hand nehmen und „Fields of Athenry“ anstimmen, gehören wir schließlich ganz und gar dazu. Die IRA-Hymne wird bis heute in den irischen Fußball-Stadien gesungen und die Belegschaft fällt an den passenden Stellen ein. Die “Bogside” ist eine Stadt in sich, die “Castle-Bar” das zu Hause und Wohnzimmer meiner neuen Bekannten. Die Bar folgt dabei ihren ganz eigen Gesetzen: Der Wochenlohn wird heute, am Samstag Abend, vom Chef an Moiree und den Barmann, gleichzeitig Musiker der “Castle Bar”, in einer Lohntüte ausgegeben. Beide zahlen ihre Pfundnoten gleich wieder am Tresen ein: Ein geschlossener Wirtschaftskreislauf, ohne Entrinnen.

Guinness zum Gebet: Alltag in der “Bogside”

Ob ich bete, hat mich wohl zum letzten Mal zur Konfirmation jemand gefragt. Als ich jetzt durch den Guinness-Nebel auf Moirees Frage ein wenig verunsichert nicke, beginnt die in ihrem schwarzen Hippie-Beutel zu kramen. Sie drückt mir eine Kette aus kleinen, hellblauen Plastikkügelchen in die Hand. Ein Rosenkranz mit Kruzifix. Eine Träne läuft Moiree über die Wange. „Übermorgen ist die Verhandlung. Bete für meinen Jungen.“

 

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Kunstinstallation auf der “City-Side”

Am nächsten Morgen gegen halb zehn spazieren wir durch Derry, lassen die Nacht noch einmal Revue passieren. Wir gehen an der „Castle Bar“ vorbei. Jemand reißt die Tür auf: Die Crew ist noch immer am Feiern. Nach der Nacht lehnen wir das nächste Guinness dankend ab und trinken noch eine Cola auf die Freundschaft und die Republik und verabschieden uns aus dem rauchigen Zwielicht der Kneipe. Draußen scheint die Sonne, über die Gassen sind Wäscheleinen mit hunderten Männerhemden gespannt. Ein Kunstprojekt, das an die im Weltkrieg zurückgelassenen Frauen der Bogside erinnern soll: Ihre Familien brachten die meisten damals ohne ihre Männer als Wäscherinnen und Näherinnen durch. Die Frauen der Bogside sind aus hartem Holz geschnitzt.

An diesem Sonntagmorgen sind wir die einzigen die die „Peace-Bridge“ zur „Waterside“ überqueren. Meine Finger schließen sich um Rosenkranz und Kruzifix in meiner Tasche. Zum ersten und vielleicht letzten Mal in meinem Leben würde ich heute das „Ave Maria“ beten.

***

Musik zum Beitrag:

“Black and Tans”, Irish rebel song, interpreted by the Wolfe Tones
“Sunday, bloody Sunday” 1983, Album “War” by U2

Über die Hintergünde des Nordirlandkonflikts:

– Making Sense of the Troubles: A History of the Northern Ireland Conflict, McKittrick,
David/McVea, David, Penguin Books, 2012.
Zur Review…

–  Und aus Sicht der BBC…

Mit diesem Blog Post nehme ich am CityBlogAward von Only-apartments, Vueling und Travel on Toast teil.

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         Der Blog für Work-a-Hippies

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